Die Glashäusler  
 
Es war einmal ein Land in dem wohnten die Menschen in Glashäusern. Die Menschen waren furchtbar nett. Sie grüßten einander freundlich, erkundigten sich wechselseitig nach dem Wohlbefinden, nach dem Fortkommen der Kinder, der Gesundheit, dem Leben im Allgemeinen und im Speziellen, sie plapperten und plauderten, sie lachten und weinten zusammen, sie teilten Freude und Trauer, sie winkten einander zu aus Fenstern, über die Gasse, aus dem Auto, im Vorbeifahren, im Vorübergehen, beim Mit-dem-Hund-Gassigehen und beim Einkaufen, ganz so wie es nette Menschen nun mal tun. In manchen Glashäusern lebten nur Glashäusler und in manchen lebten auch Menschen, die es aus der Ferne hierher verschlagen hatte. Sie lebten nebeneinander, übereinander, untereinander, etwas entfernter weg voneinander und manche näher zueinander, aber vor allem in Frieden miteinander.

Die Herrscher des Landes hatten alles, aber auch wirklich alles bestimmt, wie die Menschen in dem Land zu leben hätten. Immer neue Regeln und Vorschriften wurden erlassen und man dachte, dass all die kunstvollen Gesetze ein friedvolles Glashäuslerleben sichern würden. Nicht genug, dass es soviele Regeln gab, es existierten noch zig Ausnahmen und Unterbestimmungen zu jeder Regel, sodass mit der Zeit kaum jemand mehr einen Durchblick hatte unter welchen Umständen und Situationen welche Vorschrift anzuwenden wäre. Zur allgemeinen Verwirrung trug obendrein noch jener Umstand bei, dass wenn eine Vorschrift ein bestimmtes Handeln vorsah, zu dieser Hauptregel sicher mindestens eine Ausnahmeregel, zwei Unterregeln und drei Gegenregeln bestanden, sodaß regelkonformes Handeln je nach Bedarf anders interpretiert werden konnte. In weiser Voraussicht hatten die Herrscher die Strafen für das Brechen der Regeln sehr flexibel gestaltet, je nachdem unter welchen Umständen der Gesetzesbruch zustande gekommen war, welchen sozialen Status der Gesetzesbrecher hatte, beziehungsweise welche Absicht verfolgt wurde, wenn man einen Regelbruch ahndete. Durch dieses Verwirrspiel konnte man sicher sein, dass jeder irgendeine Vorschrift gebrochen hatte und so konnte man gegebenenfalls diesen Regelbruch zum Anlaß nehmen, um den betroffenen Mitbürger gehörig unter Druck zu setzen. Aber in aller erster Linie war es den Herrschern wichtig sicherzustellen, dass sie nur mit einer klitzekleinen Bestrafung rechnen müßten, so sie selbst eines Regelbruches überführt werden würden. Jeder, des Gesetzesburchs überführte Herrscher, wußte ja wiederum soviel über die Regelbrüche der anderen Mitherrscher, dass kein ernsthaftes Interesse dafür bestand sich gegenseitig hart zu bestrafen. Es hätte ja dann bald keine Herrscher mehr gegeben im Land der Glashäusler und wo wäre man da hingekommen? Nein das wollte man absolut nicht! Und so schufen sie sanfte Sträfchen aus Angst, dass es sie selbst hart treffen könnte, denn sich an Regeln zu halten hatten die Herrscher von Anfang an nie im Sinn gehabt. Die Glashäusler aber liebten ihre milden, sanften Herrscher und ermöglichten ihnen ein langes herrschaftliches Leben.

Die netten Menschen lachten immer recht herzlich über andere Menschen, die nicht in so einem feinen Land mit so milden Herrschern lebten und wo nicht alle so nett zu einander waren. Sie hörten ungläubig Berichte, nachdem es in anderen Ländern harte Strafen geben sollte, wenn man sich nicht an Regeln hielt. Zugegebenermaßen gab es in diesen exotischen Ländern auch nicht so viele Regeln und jeder, egal ob Bettler oder Herrscher wurde gleich hart bei einem Regelbruch bestraft. Für die Glashäusler sah es fast so aus als würde dort, jeder Bürger genau über die Konsequenzen eines Regelverstoßes informiert sein. Manche Fremdlinge gingen sogar soweit zu behaupten, dass es gut sei sich an Vorschriften zu halten und – noch viel unverständlicher für die Glashäusler – vorgaben einzusehen, dass klare Spielregeln große Freiheiten bringen würden. Aber über diese abstrusen Ansichten konnten sich die netten Menschen nur wundern und sie hatten nicht viel mehr als großes Bedauern für diese armen Verwirrten übrig. Wenn sie sahen, wie so mancher Herrscher eines anderen Landes mit Schimpf und Schande aus dem Palast gejagt wurde, nur weil er einen kleinen Regelbruch begangen hatte, da klopften sie sich gegenseitig auf die Schultern und riefen laut: „Oh, wie schön und gut haben wir es hier, wir sind so nett miteinander! Bei uns gibt es sowas nicht! Nein, sowas wollen wir hier nicht haben!“ Die Herrscher waren auch so froh und sagten:“ Seht wie gut ihr es habt. Seid froh, dass ihr uns habt. Wir sorgen dafür, dass es bei uns sowas Schreckliches niemals geben wird, wir sind doch alle so nette Menschen.“

Natürlich gab es auch Glashäusler, die an der Sanftheit der Herrscher zweifelten und ahnten, was es mit dieser Milde auf sich hatte und das diese nur den Herrschern nutzte. Vor allem jene, die schon in diese fernen, exotischen Länder gereist und sogar dort gelebt hatten bemühten sich anfangs noch auf ihre Mitbürger einzuwirken und sie zu überzeugen, dass es doch durchaus etwas Positives sein kann klare Regeln zu haben, deren Sinn und Zweck alle verstehen und sich daher auch daran halten. „Es liegt doch viel Freiheit und viel kreatives Potential für jeden Bürger in nur wenigen und klaren Regeln“, bemühten sich diese Besonnenen den Glashäusler zu erklären. Doch diese Anstrengungen waren nicht nur vergebens, sondern so mancher wurde darüberhinaus auch noch als Spassverderber verhöhnt! Und jemanden den Spass zu verderben war so ziemlich das Schlimmste was man einem gestandenen Glashäusler antun konnte und verwerflicher als jeder Regelbruch! So verstummten mit der Zeit auch jene, die sich mehr Freiheit für alle gewünscht hatten und das Land der Glashäusler sank in einen tiefen Dämmerzustand in dem es Sitte wurde, es mit den Regeln nicht allzu genau zu nehmen.
Indes ging es in den Glashäusern lustig zu. Die netten Menschen hatten Freude am Regelbruch und waren höchst einfallsreich beim Verletzen der Vorschriften. Arbeiter wurden zum Polieren der Glasscheiben eingesetzte ohne den Herrschern den Tribut dafür abzuliefern, andere wiederum bauten ihre Glasabteile um, ohne sich an Ruhebestimmungen von Feiertagen zu halten. Die Dreistigkheit mancher ging sogar soweit, dass sie einerseits anderen jeden kleinsten Regelverstoß vorhielten und ihn zu Bestrafung brachten, sich aber andererseits selbst um keine Regeln kümmerten Sie wurden von allen anderen Glashäuslern gefürchtet, weil sie große Freude daran gefunden hatten anderen das Leben schwer zu machen und diese Macht genossen.
Mancher Regelburch wurde aus reiner Gefälligkeit gegenüber eines Mitbewohners getätigt, ein anderer wiederum, um nicht in einen Konflikt mit einem anderen Glashäusler verwickelt zu werden. Die meisten Verfehlungen aber gab es aus reiner Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit und weil es ja sowieso alle taten und keiner ein Spassverderber sein wollte. Weil aber alle Bewohner eines Glashauses über die Regelbrüche des jeweils anderen genau Liste führte, war alsbald ein labiles Gleichgewicht hergestellt. Alle Glashäusler nahmen große Anstrengungen auf sich, dieses ja nicht zu gefährden. Es kam einem Drahtseilakt gleich so zu tun, als würde niemand etwas von Regelbrüchen wissen. Mit unter war man sogar gezwungen zu behaupten, dass es gar keine Verletzung der Gesetze gäbe, geschweige denn irgendeine geheime Liste über Regelverletzungen. Alle taten so als wäre alles in bester Ordnung. Sie grüßten einander weiter freundlich, doch die Angst einer der anderen könnte „die Liste“ gegen einen verwenden, war nun ständiger Begleiter. Ein vom Gegrüßten nicht als freundlich genug empfundener Grußton, jede vom Adressaten als unpassend klassifizierte Frage, jedes vom Gegenüber als zu aufgesetzt interpretiertes Lächeln, oder, noch schlimmer, ein dem Nachbarhund ein mit zu wenig empathischem Pathos entgegengebrachtes: „ Na wie gehts denn heute unserem Bobolein?“ alles, aber auch wirklich alles hätte irgendwen möglicherweise am falschen Fuß erwischen können. Der auf diese Weise Brüskierte hätte „die Liste“ gegen einen zur Anwendung bringen können, eine Kosequenz, die den Glashäuslern den kalten Schweiß auf die Stirn trieb.

Die genuine Freundlichkeit, die einst die Glashäusler auszeichnete, hatte längst jedwede Natürlichkeit verlohren und wirke zwanghaft und aufgesetzt. Es herrschte soviel Verwirrung über die Vorschriften, sodass alle die Gesetze nach ihrem Gutdünken interpretierten, ständig mit der Angst im Nacken es könnte der falscher Zugang sein und der nette Mensch von nebenan hätte nun wieder einen Regelbruch mehr aufgelistet und könnte irgendwann diese Liste gegen ihn verwenden. Bald hatten die Glashäusler so viel Angst eingedenk eines möglichen Regelbruches, dass sie sich kaum noch getrauten irgend etwas zu unternehmen. Wie gelähmt verbarrikatierten sie sich in ihren Glasabteilen und trauten sich nur noch selten unter die Leute. Was als Spass begonnen hatte verfiel nun immer mehr in einen Bann. Ein Bann, der sie dazu brachte ihr Leben melancholisch vor den Fernsehapparaten zu verbringen, verdammt zur Untätigkeit. Um dieser Augweglosigkeit wenigstens zeitweise zu entfliehen, griffen nun viele Glashäusler vermehrt zur Flasche. Durch den Inhalt, dem süßen Nektar des Vergessens, erfuhren sie Trost und Linderung. Für ein paar Stunden fühlten sie sich dann wieder mit der alten Glashäusler-Seele verbunden. Zornig ballten sie Ihre Fäuste und schlugen auf den Tisch:“ Jetzt reicht es! Was genug ist, ist genug! Ab morgen wird alles anders! Das lassen wir uns nicht länger gefallen!“ So riefen sie dann nachts in ihren Glasabteilen, wenn der süße Nektar ihnen Mut gab, um am nächsten morgen in Angst zu erwachen.

Wenn nun einmal wirklich „die Liste“ aktiviert wurde, dann lief das ganze folgendermaßen ab. Man bombadierte den zur Bestrafung Freigegebenen zuerst mit allerhand Schmähbriefen und stellte seine Forderungen. Beginnend mit der einfachen, schriftlichen „Aufforderungen zum Herunterlassen der Hose vor versammelter Nachbarschaft zur allgemeinen Belustigung“, wurden die Forderungen mit der Zeit bedrohlicher und es gesellten sich klare Erpressungen und Einschücherungen dazu. Gleichzeitig mit der Forderung legte man fest, mit welchen Folgen zu rechnen sei, so man dieser Aufforderung in einer angemessenen Frist nicht Folge leisten würde. Diese von allen gefürchteten „Folgen“ wurden von den, von den Herrschern eingesetzten, Beugebeamten exekutiert. Beugebeamte waren manchmal selbst arme Teufel, deren „Liste“ sie zu solchen Amtshandlungen drängte., aber viele hatten auch Gefallen an diesen „Hose runter“ Spielen und sie arbeiteten eng mit jenen Glashäuslern zusammen, die als nette Menschen getarnt in den Glashäusern wohnten und Freude an dem Führen von Listen gefunden hatten. Sowohl die Beugebeamten, als auch die Denunzianten in den Glashäusern genossen diese Macht, denn es rückte sie in die Nähe der Herrscher, deren Werkzeuge sie waren. Waren sie unbrauchbar geworden, konnte man sie auf bequeme Art los werden. Auf die gleiche Weise wie man sich der in Ungnade gefallener Glashäusler entledigte: Der Liste!

Die Menschen, die aus anderen Ländern zu Besuch kamen, waren nur voll des Lobes für das Land der Glashäusler. Sie sahen wie nett alle waren und wieviel Spass alle miteinander hatten. Niemand der Glashäusler sprach jemals offen über die große Verwirrung im Land, geschweige denn über die „Listen“. Auch über die Beugebeamten und deren Spitzel drang niemals auch nur das kleinste Wörtchen an das Ohr der Besucher. Jedes Gespräch, jede zwischenmenschliche Regung war kontrolliert und diente einzig und alleine der Verschleierung der Wirklichkeit. So waren und blieben die Glashäusler isoliert und unverstanden in der großen weiten Welt zurück. Das einst so glückliche Land wurde für seine Bewohner zu einer Gegend, in der niemand mehr Freude finden konnte und in der alle Menschen in Angst und Furcht vor allem und jedem lebten. Sie empfanden es als große Ungerechtigkeit, wie Fortuna ihnen mitgespielt hatte und tranken immer mehr vom süßen Nektar des Vergessens. All jene, die nicht soviel Nektar trinken wollten, wurden sogleich verdächtigt glücklicher als der Rest zu sein und dieser, von den Glashäuslern, als noch größere Ungerechtigkeit empfundenen Umstand, wurde mit dem einzigen Mittel bekämpft das sie kannten: Der Liste!

Am Ende waren von den besonnenen Glashäuslern entweder viele schnell aus dem Land verschwunden, um in jenen Ländern ihr Glück zu finden, deren Herrscher nicht versuchten ihre Bürger zu vernebeln, oder aber sie waren so eingeschüchtert worden, dass sie zeitlebens nicht mehr den Mut hatten offen Kritik an dem ganzen, komplizierten System aus Macht und deren Missbrauch zu üben. So blieben im Land der einst so netten Menschen nur mehr die Herrscher, die Schergen und Denunzianten und jene Glashäusler übrig, die vergessen hatten, warum sie begonnen hatten vom süßen Nektar des Vergessens zu trinken.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann haben sie nach wie vor nur einen Sinn im Leben gefunden, das Führen der Liste!.
 
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